Tashi Brauen

Exhibition view, "Ohne Titel (Verschiebung B)", 2021, Acrylic paint on cardboard

Exhibition view, Dienstgebäude Art Space, Zürich, 2022

Exhibition view, "Ohne Titel (Verschiebung A)", 2021, Acrylic paint on cardboard

"Ohne Titel (C)", 2021
Acrylic paint on cardboard
160x120 cm

"Ohne Titel (Verschiebung A)", 2021
Acrylic paint on cardboard
160x120 cm

"Ohne Titel (Verschiebung B)", 2021
Acrylic paint on cardboard
160x120 cm

Cracks, 2020
Acrylic paint on cardboard
160x120 cm

TOMORROW, 2022
Solo exhibition at Dienstgebäude, Zürich, 10.6.-16.7.2022

Im Temporären erkennen wir einen wesentlichen Aspekt in Tashi Brauens Arbeit. Diese ist deswegen aber nicht vergänglicher als irgendein anderes menschliches Werk. Seine Collagen, Malereien, Fotografien, Objekte und Installationen entstehen oft aus wiederholt transformierten Werkstoffen. Trotzdem mutet am Ort des Erscheinens nichts davon ephemer oder zufällig an. Denn Brauen empfindet räumlich und er versteht den Werkstoff für den jeweiligen Ort so zu gestalten oder in ihn einzupassen, dass dieser Ort das Potential der Arbeit selbst wiedergibt und auf diese Weise ein Dialog zwischen beiden entsteht. Doch zwingt er weder Ort noch Werkstoff, denn Brauen verbindet Grundformen der kreativen Freiheit mit Grundfragen der Rezeption.

Die Wiederverwendung von Werkstoffen und der Charakter der Mutation in Brauens künstlerischer Praxis zeigt sich in der hiesigen Ausstellung auch im Titel. Die Gedichtzeile eines Haikus, Tomorrow’s Wind Blows Tomorrow, lieh der Präsentation neuer Arbeiten in der Galerie Bernhard Bischoff in Bern von April bis Mai in diesem Jahr ihren Namen. Das heisst, was heute geschieht oder getan wird, steht für das Gestern von morgen. Der Gebrauch von Werkstoffen, seien sie vom Künstler selbst schon einmal verwendet, seien sie von zweiter Hand und zu anderem Zweck hergestellt worden, möchten wir zyklisch nennen. Jedenfalls ist kein Werk vor Veränderung gesichert, solange es dem Künstler im Atelier greifbar ist.

Die vier Arbeiten sind aus Maschinenholz- d.h. Finnpappe und Acrylfarbe gefertigt. Der kartonartige Werkstoff wird vorzugsweise im Modellbau verwendet und ist leicht zu bearbeiten. Die Farben werden ungemischt direkt aus der Tube angewandt. Ob Geraden und Kurven mit dem Messer oder Brüche und Risse von Hand, sie sind gesteuert durch die Dynamik im Moment der Aktion. Bildträger und Motiv lassen sich hier nicht trennen. Von Wandobjekten zu sprechen wäre in diesem Sinne nicht falsch. Zwei der Werke, Cracks von 2020 und Ohne Titel (Verschiebung B) von 2021 zeigte der Künstler schon an andern Orten, während Ohne Titel (Verschiebung A) und Ohne Titel (Verschiebung C), beide von 2021, zum ersten Mal hier zu sehen sind.

Ohne Titel (Verschiebung A) ist eine Malerei aus Gelb und Orange auf zwei Pappen. Die gelbe überlagert die orange Fläche. Die titelgebende ‘Verschiebung’ bei dreien der Werke ist einer während der Pandemie verunmöglichten Ausstellung geschuldet. Eine Verschiebung könnte die gelbe Fläche von A auch sein, würden wir sie als Rahmen oder Passepartout für das Bild in Orange halten. Unser Blick trennt und verbindet die zwei Flächen ständig. Die Risse und Brüche im Orange zeugen vom rüden Umgang mit dem Werkstoff. Doch formal wirken die Eingriffe sensibel, die Brüche scheinen bei verschiedenem Licht veränderlich und zeichnen feine helle Linien in die orange Fläche, die Risse in Ober- und Unterkante schaffen sanfte Übergänge ins Gelb.

Es sind basale Gestaltungsmittel, deren sich der Künstler bedient. Zwei Schnitte als Bogen seiner Armeslänge etwa in der Arbeit Ohne Titel (Verschiebung B), auf monochrom bemalter Fläche, demonstrieren den physischen Handelsradius des Künstlers. Abrisskanten und Knicke im Werkstoff offenbaren dessen Beschaffenheit, die eingefärbten Oberflächen akzentuieren sie. Die Massnahmen und Eingriffe tarieren die Möglichkeiten und Grenzen von Künstler und Werkstoff. Ausweitung und Beschränkung sind Stichworte, welche die Gesetzmässigkeiten des Handelns mitbestimmen. Brauens Aufmerksamkeit richtet sich demnach an seinem künstlerischen Formwillen aus. Worin dieser im Detail gründet, wäre andernorts noch zu diskutieren.

Drei Aspekte sind also zu erkennen: Die örtliche beziehungsweise räumliche Situation, der originäre oder manipulierte Werkstoff, und das experimentelle Interesse Brauens. Dieser Dreifuss, darauf wir Brauens Werk gegründet sehen, ist stabil und labil zugleich. Wie stark die teils tibetische Herkunft des Künstlers auf sein Werk einwirkt, vermögen wir nicht zu bestimmen. Vielleicht sind es die kräftigen Farben, vielleicht ist es die reduzierte Form oder die Leichtigkeit in der ästhetischen Konzeption, die seinem Werk eigen sind, Faktoren freilich, die ebenso in der Moderne wurzeln. Jedenfalls wird das Geistige in Brauens Kunst bestimmt durch seine Fähigkeit zur Freiheit und zum Wagnis. Wer dem Zufall Rechte einräumt, dem fällt beim Arbeiten Neues zu.

Chris Bünter, Rosenlaui Ende Mai 2022